Echtes Ich und ganzes Wir
"Differenzierung" nennt das mein Lieblings-Paartherapeut David Schnarch.
Und das bedeutet, ganz bei mir selbst zu bleiben, während ich dem anderen nahe bin. Zu mir zu stehen. Mich dem anderen zuzumuten. Mich nicht verstellen, um ihm zu gefallen. Auch einmal
Disharmonie in Kauf zu nehmen.
Beziehung ist nicht immer ein An-einem-Strang-ziehen. Manchmal ist sie eher ein Tauziehen. Ein Aushandeln. Ausdifferenzieren. Um sich auf einen gemeisamen Weg festzulegen, der zu beiden
passt.
Und manchmal sind es auch einfach zwei Wege, die wir gehen, während wir uns beide wohlwollend im Blick behalten. Und das ist okay.
Wieviel Nähe brauchst du, um dich verbunden zu fühlen?
Wieviel Freiraum, um dich nicht aufzulösen im Wir?
Wieviel Differenz ist okay, ohne dass ihr euch dabei verliert?
Emotionale Verschmelzung
Sie ist das Gegenteil von Differenzierung. Keine Ahnung mehr, wo der eine beginnt und der andere aufhört. Die Meinung des anderen ist so wichtig, dass ich
verunsichert bin, etwas anderes zu tun. Ich brauche die Bestätigung des Partners. Seine Zustimmung. Seine Anerkennung. Seine Regulierung.
Seltsam ist, dass oft die zerstrittenen Paare die verschmolzensten sind. Die Grenzen sind nicht abgesteckt. Da ist keine Luft zum Atmen mehr. Jeder ringt um seinen Raum, Wut kommt hoch. Denn Wut
ist immer ein Zeichen für übertretene Grenzen! Ich ringe darum, ich selbst sein zu dürfen und scheitere doch daran, weil ich mich persönlich abgelehnt fühle, wenn der Partner etwas anders sieht.
Mir nicht zustimmt. Weil ich den anderen zu sehr brauche. Weil ich ihm die Deutungshoheit überlasse.
Emotionale Verschmelzung ist eine normale Enwicklung in der Verliebtheit. Doch für eine langfristig gut funktionierende Beziehung braucht es keine Symbiose mehr. Sie nimmt euch jegliche
Luft.
Jetzt heißt es, den mühsamen Weg der (Aus)Differenzierung zu gehen. Ohne euch dabei zu verlieren.
Wie?
1. Entwickle ein stabiles & flexibles Selbst
Sei dir über dich selbst im Klaren: Was willst du? Wo willst du hin? Was macht dich aus? Wenn du das weißt, kannst du besser zu dir stehen, wenn von außen Erwartungen an dich herangetragen werden. Du kannst dein ursprüngliches Ich aufrechterhalten, auch dann, wenn der Druck um dich herum groß wird.
Die Folge? Du brauchst, um deine Grenzen zu setzen, keinen Abstand zu anderen mehr zu halten. Du musst nicht aus Selbstschutz die Flucht ergreifen, weil du Angst hast, von zu viel Nähe vereinnahmt zu werden. Weil du zu dir stehst. Kongruent bist. Echt.
Flexibel ist mindestens genauso wichtig: Weil Leben Veränderung ist. Du darfst deine Meinung ändern. Deine Lebensweise. Dich von anderen beeinflussen lassen. Aber alles in dem Rahmen, den du für dich stimmig findest. Dein stabiles Selbst ist der Chef, der über deine Veränderung bestimmt. Nicht die Umgebung.
2. Beruhige dich selbst
Selbstregulation ist eine krasse Fähigkeit, die dir hilft, unabhängig von anderen zu sein. Delegiere diese wichtige Sache nicht an andere! Lerne, den Gedankensturm in dir zu beruhigen. Die Gefühle der Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht kannst du gerne betrachten. Und dann übernimm wieder die Führung und sage dir: Ja, so sieht es gerade aus. Aber das ist kein Dauerzustand. Die Erfahrung lehrt mich, dass jede schlimme Zeit auch wieder abgelöst wird von einer besseren, leichteren. Oder du regulierst dich im Gebet – und gibst das, was dir Angst macht, an Gott ab.
3. Reagiere besonnen
Reagiere nicht über, wenn du in einen Konflikt gerätst. Bleibe ganz bei dir, ohne auf Distanz zum anderen zu gehen. Du kannst ruhig und gelassen bleiben und trotzdem zu dir stehen. Es ist das gute Recht des anderen, nicht mit dir übereinzustimmen. Das ist okay. Das darf er.
Lass dich nicht von der Angst oder der Unsicherheit deines Gegenübers anstecken. Bleibe ruhig und warte, bis sich dein Partner wieder selbst reguliert hat.
4. Sei sinnvoll beharrlich
Wenn du weiterkommen willst, wird das nicht immer einfach sein. Du wirst investieren müssen. Unbehagen in Kauf nehmen müssen. Dein Ziel trotz Widerständen verfolgen. Wenn du weißt, wo du hinwillst, wirst du die Missstände in Kauf nehmen. Setze dich ein für das, was dir wichtig ist. Setze dich auseinander mit dem, was dir im Weg steht. Bleibe dran und entwickle Ausdauer und Hartnäckigkeit, um das, was dir wichtig ist, zu erreichen.
Warum ich so von Differenzierung in der Partnerschaft überzeugt bin?
1. Ich muss nicht erraten, was mein Partner gerade braucht oder von mir erwartet. Ich tappe nicht im Dunkeln dabei und stoße mir ständig den Kopf :)
2. Ich weiß, dass mein Partner gut für sich selbst sorgt. Ich trage Verantwortung nur für mich selbst. Ich bin beruhigt, weil er sich um sein Wohlergehen kümmert und für sich einsteht.
3. Bei einer Auseinandersetzung habe ich keine Sorge, ihn zu übergehen. Ich kann ganz mich im Blick haben und weiß, dass er das ebenso bei sich macht.
4. Ich kann ihm beim Wort nehmen. Er sagt, was er meint, nicht das, was ich hören will. Ich weiß, woran ich bei ihm bin.
5. Ich kann ihn als starke stabile Persönlichkeit respektieren.
Das sind für mich optimale Voraussetzungen für eine tiefe Beziehung! Es macht alles so viel einfacher :)